KARL RICHTER
Musikalischer Brückenbauer ins Überirdische

Unzeitgemäße Betrachtungen

Hier können Sie eine Langfassung dieses Textes nachlesen, der für die Buchausgabe gekürzt wurde:



Wenn ein wahres Genie in die Welt tritt, erkennt ihr es an den Idioten, die sich dagegen verschwören.
Jonathan Swift

Unzeitgemäße Betrachtungen

- angestellt von einem, der an der alten Musik leidet, wie sie heute erklingt...

Welche Stellung nimmt Karl Richter heute, 35 Jahre nach seinem Tode, in der Interpretationsgeschichte seines Jahrhunderts ein? Eine Antwort gab Joachim Kaiser in seiner letzten Publikation im Jahr 2012: „Karl Richter war ein genialer Bach-Interpret. Was er schuf, hat Bestand jenseits aller Moden, Stile und Haltungen, die die Zeit immer wieder neu hervorbringt. Als Gründer und Leiter des Münchener Bach-Chores sowie des Bach-Orchesters war er zudem eine Idealbesetzung. Dieses Urteil bleibt auch dann gültig, wenn man bedenkt, dass nachgeborene Chorleiter und Dirigenten wie Ton Koopman und John Eliot Gardiner ebenfalls mit ausgezeichneten Bach-Interpretationen die Freunde historischer Aufführungspraxis überzeugen konnten. Als virtuoser Organist und typischer sächsischer Kantor war Karl Richter erfüllt von Bach. Er durchdrang ihn geistig, weshalb er nie einfach nur ein Programm abspulte. […] Offen, wie er war, konnte er Bach auf höchst unterschiedliche Weisen dirigieren. […] Um sein Ingenium entfalten zu können, überließ sich Richter seinem tiefgründigen Instinkt. Gut beobachten konnte man das in den Passionen mit den wunderbar harmonisierten Chorälen. Manchmal ließ sie Richter leise und zart vortragen, wie die Klage eines Einzelnen, manchmal laut und mächtig, als ob die ganze Gemeinde mitsinge. [...]“ (1)

Solche Urteile waren in den Jahren nach Richters Tod eher selten zu hören. Vielen schien er schon in seinen letzten Schaffensjahren zum Fossil einer überholten Art des Musizierens geworden zu sein. Vom immer schneller sich drehenden Karusell der Richtungen, Moden und Geschmäcker aus gesehen, wurde er als Ewig-Gestriger, ja als ein Unbelehrbarer gescholten. Es war geradezu tragisch, dass Karl Richter, der den Musik-Theologen Bach am Ende einer hundertfünfzigjährigen Aufführungsgeschichte mit seiner ausdrucksmächtigen musikalischen „Confessio christiana“ auf einer letzten Höchststufe der Vergegenwärtigung quasi zu selbst gebracht hatte, sich mit dem einschneidendsten Paradigmenwechsel konfrontiert sah, der je in der europäischen Geschichte der Musikinterpretation vorgefallen ist, den er vielleicht – unwillentlich – selbst angestoßen hatte. Denn nach ihm schienen die Interpretation Bachs im traditionellen Stil „ausgeschöpft“. Die Musik Bachs und anderer wurde ihrer eigenen Geschichte beraubt, wie ein Haus, das in seiner Geschichte von vielen Generationen bewohnt wurde, die ihre Spuren hinterlassen haben, und das dann zu einer Puppenstuben-Antiquität zurückrestauriert wurde. Was sich bis dahin in mählicher Metamorphose weiterentwickelt hatte, der Klang der Instrumente, die Besetzungsgrößen, die Gesangstechniken, die zeitliche Dauer der Aufführungen, eben alle Parameter des Musikmachens, wurden, was die Werke der vor-romantischen Epochen betraf, auf Null, auf den Stand von ungefähr 1700, zurückgesetzt. Der in den 1970er Jahren einsetzende Bruch war vollständig, denn er betraf nicht nur diese äußeren Parameter, sondern das Selbstverständnis des Dirigenten an sich. Hatte man auch früher schon mit kleinen Besetzungen, älteren Instrumenten und quasi objektiv-neutralem Ausdruck experimentiert, trat zu all dem nun eine radikal andere, aus der theoretischen Literatur der jeweiligen Zeit hergeleitete Artikulation und Phrasierung des musikalischen Ablaufs. Die Musik, die nun plötzlich „die Alte“ geworden war, wurde dem Diktat einer „Musik als Klangrede“ unterworfen. Die Dirigenten verstanden sich von da ab als „Stellvertreter“ des Komponisten, jedoch nicht als sein Interpret, sondern als Vollstrecker seines vermuteten historischen Willens. Die englischen Begriffe für den musikalischen Leiter, „director“ und „conductor“ machen diesen Unterschied bestens sinnfällig: der eine „koordiniert“ das musikalische Geschehen, der andere „führt“ es. Karl Richter, der seine Vision von der Größe Bachs in seiner Zeit verwirklicht hatte, passte nicht mehr in die Streichholzschachtelwelt eines musikalischen Historismus.

„Heute ist es vielleicht richtiger – aber früher war es schöner.“ Diese Klage, die nach „Ewig-Gestrigkeit“ klingt, ist nicht neu. Sie wird Karl Straube zugeschrieben, der damit seine Zweifel an der veränderten Aufführungspraxis der Bach-Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts ausgedrückt hat. Uwe Röhl, ehemaliger Lübecker Domorganist und Musikchef beim Norddeutschen Rundfunk, konnte noch 1996 in einem Vortrag die Frage stellen: Gibt es überhaupt    d i e  richtige Bach-Interpretation – oder ist alles nur individuelle Auffassungssache?“ Und stellte fest: „Einer wie Karl Richter [...] hat sich von der musikwissenschaftlichen Revolution in der Barockforschung nie irremachen lassen. Und mit seinen Interpetationen der großen Oratorien, Messen und Kantaten Johann Sebastian Bachs hat er Maßstäbe gesetzt. Mag man in einzelnen Punkten seiner Wiedergaben auch anderer Meinung sein, steht doch außer Frage, dass Richter  […] die Größe des Komponisten Bach im Ganzen wie auch in den Details zu vermitteln verstand. Die Zuhörer gewannen den Eindruck, dass es eigentlich nur so und nicht anders klingen durfte. Richter wusste natürlich, dass es keine absolut gültige Darstellung geben konnte. Weder lässt sich der Wille des Komponisten durch die Notenschrift völlig eindeutig festlegen, noch sind die physischen und geistigen Voraussetzungen der reproduzierenden Künstler gleich. Interpetation schließt neben der Beherrschung der musikalischen Technik immer auch die Deutung, Beurteilung und das 'Zwischen-den Zeilen-Lesens' ein. Nicht zu vergessen sind Sensibilität und Gefühle.“ Zu ergänzen wäre die Spiritualität des Interpreten. Beethoven mahnte: „Von oben muss kommen, was das Herz treffen soll. Sonst sind's nur Noten – Körper ohne Geist.“

Wieder zwanzig Jahre später stellt sich bei Betrachtung der „Bach-Szene“ der Eindruck ein, dass der künstlerische Grund-Antrieb wie dieses „Zwischen-den Zeilen-Lesen“, die Deutung des Werks, ja der ganze nachschöpferische Komplex aus Intuition, Imagination und Spiritualität, besonders in der Ausübung „alter Musik“ obsolet, weil des „Subjektivismus verdächtig“ geworden sind. Sie mussten einer immer dominierender und fordernder auftretenden Buchstabengläubigkeit weichen, in der die jüngeren Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis immer noch ihre älteren Vorgänger zu übertreffen suchen. Diese dauerhafte Normierung und Kontrolle durch ein „peer reviewing“, einer Art „Kollegen-Kontrolle“ innerhalb der sognannten „HIP-Bewegung“, beherrscht mittlerweile die Geister. Vom professionellen Großkritiker bis hin zum kleinen Rundfunkmoderator betet die Musikpublizistik heute das Credo der „historischen Aufführungspraxis“ nach. Jeder Musiker, der sich, ob in der fernsten Geschichte der Tonaufzeichnung oder jetzt gerade eben, der „alten Musik“ widmet, wird einer inquisitorischen Prüfung seines „Dafür oder Dagegen“ unterzogen. Bei unanfechtbaren Künstlern, etwa dem Tenor Fritz Wunderlich, heißt es dann entschuldigend und gönnerhaft: „Obwohl er noch nicht ...“. Einzig Glenn Gould in seiner jeden Rahmen sprengenden Exzentrizität scheint sich im allgemeinen der Messlatte des Historismus entziehen zu können. Verglichen mit dem Klang, der von Richter, Scherchen, Ristenpart, Münchinger, Leppard und ihren Zeitgenossen geläufig ist, changiert das Klangideal in der alten Musik mittlerweile zwischen einer skelettierten, weichgespülten bis grell überzeichneten, oft „Grimassen schneidenden“ Realisation, immer verbunden mit einer manirierten, merkwürdig hüpfenden Überbetonung der guten Taktzeiten und einem Hang zur blutleeren „Wirkungsverweigerung“, die der Musik etwas eigenartig „Schaumgebremstes“ aufnötigt. Die „gesunde Mittellage“ oder eine ausdrucksgesättigt-großformatige Werkauffassung ist den Historisten abhanden gekommen.

Ein Dokument der Auseinandersetzung über den Gegensatz zwischen einer modernen und der historischen Aufführungspraxis, wie sie in deren Anfängen noch geführt wurde, ist ein Gespräch, das um 1972 im Hessischen Rundfunk stattfand. Helmuth Rilling und Nikolaus Harnoncourt, die beide gerade ihre Gesamteinspielungen der Kantaten Bachs begonnen hatten, diskutierten über ihre jeweiligen künstlerischen Intentionen. Auf Rillings Seite ergriffen sekundierend die Kirchenmusiker Manfred Schreier (Stuttgart) und Wilhelm Stockmeier (Frankfurt) Partei für die moderne Aufführungspraxis. Die beiden Kritiker Karl Dietrich Gräwe und Dieter Rexroth sekundierten bezeichnenderweise mehr der Position Harnoncourts. Der Titel der Sendung wurde einer Bach-Kantate entnommen, deren Eingangschor den Ausgangspunkt des Gesprächs bildete: „Es erhub sich ein Streit“. Das Stichwort „Meditation“ bezog sich auf ein zweites Musikbeispiel, die Altarie „O Mensch, errette dein Seele“ aus der Kantate BWV 20. Die Grundpositionen, wie sie sich Anfang der 1970er Jahre darstellten, werden im folgenden zusammengefasst. Dabei sind die Beiträge Rillings und Schreiers von besonderem Interesse, da ihre Gedankengänge in der gegenwärtigen Diskussion überhaupt nicht mehr vorkommen.

Harnoncourt: „Wir, ich und die Musiker, die mit mir musizieren, sind zur Überzeugung gekommen, dass nur die größtmögliche Befolgung der vom Komponisten überlieferten Spielanweisung auch die für uns größtmögliche Überzeugungskraft des Werkes bringt. Aus diesem Grund ergeben sich alle anderen Gründe als Folge von selbst. Ich würde also gar nicht die Verwendung der alten Instrumente, die bei uns meistens als der 'Aufhänger' angesprochen wird, als das Wesentlichste betrachten. Es gibt eine ganze Reihe von Komponenten, die ebenso wichtig sind, die alten Instrumente sind also nur eine dieser wesentlichen Komponenten. Das Grundprinzip ist, die Musik Bachs in einer Weise wiederzugeben, wie sie unseres Erachtens nach den heute erkennbaren Intentionen Bachs am ehesten entsprechen mag. [...] Mir ist aber eine 'künstlerische' Interpretation auf dem Klavier lieber als eine 'un-künstlerische', die alles 'richtig' macht, auf einem Cembalo. Nur, wenn ich die Wahl habe, nehme ich die alten Instrumente, weil ich darauf besser und lebendiger musizieren kann. Ich möchte das aber nicht verallgemeinern. [...] Mir kommt es auf die 'Ansprache', das Sprechende in der Musik an, nicht auf ein Moment der Meditation durch Musik.“ Auf die Konfrontation mit einem Zitat aus seiner Einführung zur ersten Aufnahme der h-moll-Messe, der Musik Bachs, die aufgrund der romantischen Musiktradition nun eigentlich in ihrer Interpretation voll ausgeschöpft sei, müsse man mit Hilfe des alten Instrumentariums und der historischen Fakten wieder zu ihrem Recht verhelfen, klärte Harnoncourt seine Haltung: „Mir waren bis zur Aufnahme der h-moll-Messe Aufführungen nur in der Tradition des 19. Jahrhunderts bekannt. Ich fand, dass der Übermächtigkeit dieser nicht auf Bach, sondern auf eine neu beginnenden Tradition des 19. Jahrhunderts zurückgehenden Aufführungspraxis unserer Zeit eine Alternative entgegengesetzt werden muss. Nämlich eine, die diese Aufführungspraxis und diese Tradition effektiv ignoriert und versucht, auf das Original zurückzuspringen und soweit wie möglich die Hörerfahrungen der Zwischenzeit zu ignorieren.“

Dazu wäre anzumerken, dass sich Harnoncourt bereits hier auf eine Fiktion berief, nämlich die der „vom Komponisten überlieferten Spielanweisung“ und der „heute erkennbaren Intentionen Bachs“. Es wurde stets allgemein beklagt, dass gerade Bach in seinen Manuskripten so ausgesprochen wenige Spielanweisungen hinterlassen habe, was es seinen Interpreten besonders schwer mache. Mit gleichem Recht konnte sich Karl Richter darauf berufen, Bachs Notenschrift genaustens zu befolgen, denn etwa in den Brandenburgischen Konzerten spielte er Note für Note das, was in Bachs kalligraphisch ausgeführtem Widmungsexemplar steht. Was Harnoncourt meinte und tat, war nichts anderes, als die historischen Quellen einiger Autoren der Zeit im Analogieschluss auf alle anderen Komponisten der gleichen Epoche zu übertragen. Außerdem setzte oder ergänzte er beispielsweise Spielanweisungen wie Bindebögen etc., wie seinen Revisionsberichten zu den Kantaten-Aufnahmen bei Teldec zu entnehmen ist, meist im Analogieschluss aus wenigen vorhandenen Bezeichnungen Bachs oder vermuteten Ähnlichkeiten. Wie wissenschaftlich exakt dieses Vorgehen ist, sei dahingestellt.

In der HR-Diskussion erwiderte Rilling: „Auch ich meine, wie Herr Harnoncourt, man muss Bach so musizieren, dass man seinem Werk und seinen Intentionen so weit als möglich gerecht wird. Mein Ansatz liegt etwas anders. Ich bin selbst Kirchenmusiker und ich komme sehr stark vom Vokalen her und ich meine, dass Bachs Kantaten in ihrer ganzen Beziehung auf die Thomaskirche in Leipzig sehr stark in der Tradition der evangelischen Kirchenmusik stehen, so dass also die vokale Komponente, die Frage des Kantablen dabei sehr stark eine Rolle spielt.“ Zum Thema der Stimmung und Tonhöhe des Musikbeispiels BWV 19,1: „Die moderne höhere Stimmund trägt zur Brillanz bei, die manchen Stücken kompositiorisch eingeschrieben ist, sie kann daher nicht gleichgültig sein. Ich meine, dass dieses Stück für Bachs Zeit ein 'brillantes' Stück war. Nicht nur für den Komponisten Bach, sondern gerade auch für den Interpreten Bach ein brillantes Stück, das bestimmt die Zuhörer damals genauso hingerissen hat, wie es sie heute noch hinreisst. Ich frage mich aber, ob diese Brillanz, wenn wir bei diesem 'angriffigen' Wort bleiben, nicht irgendwo die Grundidee dieser Komposition ist. Worum geht es? – Und nun kämen wir zu einem ganz zentralen Thema, wenn es überhaupt um Bach-Kantaten geht, nämlich dem Text der Kantaten. Bach komponierte im Auftrag einer Kirche für den Gottesdienst der Kirche. Es war ihm im Gottesdienst Zeit eingeräumt für Musik, Musik aber nur insofern, als diese Musik die Tendenz haben sollte, der Gemeinde über die Sprache der Musik zu sagen, was der Pfarrer vorher in einer einstündigen Predigt viellicht nicht ganz hingekriegt hatte. [...] Müssen nun wir Interpreten nicht mit einer ganz großen Vitalität darangehen und diese Musik so ausfechten, dass sie nicht ein Museumsstück ist, das man bewundert als ein Werk, das Bach einmal in fernen Zeiten geschrieben hat, sondern etwas, das für uns heute als Stück, als Werk noch bedeutsam sein kann? Ich meine, dass Probleme der Art, wie sie Bach in seiner Musik diskutiert, doch auch heute noch bestehen und diese Musik nicht etwas ist, was im Hintergrund unerheblich dastehen kann, sondern das eine Aussage für uns heute haben kann.“

Gräwe: „Es ist fraglich, ob Brillanz ein Kriterium für Bachs Komposition ist, also überhaupt erforderlich ist – wird für Hörgewohnheiten musiziert oder von der Partitur her? Sollte man nicht den Hörer zu einem Stutzen bringen, die Hörgewohnheiten verunsichern? – Ziel wäre dann, sich aus einer Verunsicherung heraus intensiver und bewusster durch die musikalischen Sachverhalte durchzuhören.“

Rexroth: „Wir haben uns an die Bachsche Musik gewöhnt und wir glauben, sie zu besitzen. Harnoncourt weist uns darauf hin, dass Bach etwas ganz anderes ist, dass in ihm potentiell musikalisch etwas ganz anderes steckt, als das, was wir aus der Tradition des 19. Jahrhunderts heraus gewöhnlich unter der Bachschen Musik verstehen, und was Herr Rilling auch mit seinem Begriff Brillanz angeschnitten hat. Harnoncourt befremdet uns durch das Bachbild, das er uns vorstellt, er konfrontiert uns durch seine Art der Ausführung mit einer Bach-Musik, die uns völlig neu ist. Insofern wäre nun auch die Frage zu stellen, inwieweit – unabhängig von der Tradition oder im Zusammenhang mit bestimmten Entwicklungstendenzen aus dem 19. Jahrhundert, nämlich dem Drang nach Neuem, – sich die Aufführungsart Harnoncourts nicht praktisch lückenlos einordnet, also dass der Rückgang zum Alten sozusagen als das Neue in Erscheinung tritt. Für mich ist der entscheidende Unterschied: Bei Rilling steht das 'Interpretieren' im neuzeitlichen Sinne des Sich-Ausdrückens in der expressiv-kantablen Gestaltung im Vordergrund. Bei Harnoncourt steht das Moment des 'Exekutierens', des Ausführens des Notierten im Sinne der Kategorien des 18. Jahrhunderts im Vordergrund. Die 'Ansprache' gehört als Kategorie deutlich dort hinein, wohingegen der Aspekt des Meditativen, verlagert in eine subjektive Kundgebung, mehr dem ästhetischen Bereich des 19. Jhds. zugehört.“

Schreier: „Diese Überlegung [Harnoncourts, auf das Original zurückzuspringen] öffnet einen ganzen Fragen-Komplex des Historismus, auch in seiner philosophischen Prägung. Es gab einmal eine Zeit, wo man geglaubt hat, dass man die Werte der Geschichte dadurch eigentlich erfahre und sich zu eigen mache, indem man sie möglichst aus dem Gewand der Zeit heraus wieder darstelle. Aber es gab eine Reaktion auf diesen Historismus, die besagt hat, dass es nur möglich ist, Werte aus der Geschichte konkret für das Leben im 20. Jahrhundert anzunehmen, wenn man sie, beispielsweise für uns Musiker des 20. Jahrhunderts mit allen möglichen Hörerfahrungen, mit ihrer ganzen Tragweite der Erkenntnis einbringt. Wenn gesagt wird, das alte Instrumenarium verfremde unsere Hörgewohnheit von Bach soweit, dass wir Bach neu hören könnten, muss ich deutlich entgegnen, dass ein ganz großer Exponent der Musik des 20. Jahrhunderts, Anton Webern, einen Versuch unternommen hat, die Bachsche Musik in ihrer musikalischen Tragweite aufzubereiten, so wie er sie von seiner Kenntnis der Struktur von Musik verstand, und ihm da ein Stück Musik gelungen ist, das sowohl Bach als auch Webern ist. Als Bach ist es der Kontext, der entstanden ist in der Geschichte, als Webern ist es eine Musik, die von Bach ausgegangen ist und mich als Hörer des 20. Jhds. trifft. Ein Tristan-Akkord ist einmal dagewesen und ich werde nicht mehr hinter diesen Akkord zurückgehen können, er hat sich zu einer Hörgewohnheit gemacht. Das heißt, wenn ich versuche, ein Werk der Geschichte aufzuschlüsseln, muss ich mir große Rechenschaft darüber geben, wo ich in der Geschichte stehe – an meinem Platz, jetzt, hier und heute.“ (2)

Anfang der 1970er Jahre konnte man also über die Alternative, die alte Musik wieder auf den „Erwartungshorizont“ ihrer Entstehungszeit zurückzustutzen oder mit den Ohren und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch die ihren Partituren nur angelegten neuen Ausdrucksmöglichkeiten aufzuschließen, noch diskutieren. Ganz unverholen äußern die beiden Kritiker hier, weshalb sie der historischen Aufführungspraxis das Wort redeten: Das Movens ist das Luxusproblem eines Ennui am Bekannten, der Wunsch nach der Illusion, es durch Verfremdung noch einmal neu hören zu können. Der Paradigmenwechsel in der Aufführungspraxis, der sich in dann in der breiteren Musikszene zu etablieren begann, hat bewirkt, dass die Frage nach Röhls „individueller Auffassungssache“ oder Schreiers Bewusstmachen des geschichtlichen Standorts des Interpreten in der Aufführung alter Musik immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde und inzwischen ihre Relevanz verloren hat. Das minutiös erforschte Regelwerk für die vor-romantische Musik, das aus den historischen Traktaten und Spielanweisungen gezogen wird, fordert zu immer noch „richtigerer“ praktischer Umsetzung des Gelesenen heraus. Die Flucht in die obejektive „Richtigkeit“ der Wiedergabe hat den echten individuellen Zugang zum Werk verbaut. Die „historische Richtigkeit“ hat ja den Vorteil, jeden Moment der Aufführung exakt begründen zu können. Mit ihr ist der Musiker immer auf der vermeintlich richtigen Seite, das Risiko der eigenverantwortlichen künstlerische Entscheidung wird vermieden. Die intellektuelle Verbalisierung und die Verpflichtung zur argumentativen Begründbarkeit jeder künstlerischen Entscheidung, abgesichert durch die Vorgaben des Regelwerks, allgemein ein Phänomen der gegenwärtigen „Expertokratie“, ist freilich der natürliche Feind aller eigenschöpferischen künstlerischer Tätigkeit: „Wenn ihr's nicht erfühlt – ihr werdet's nicht erjagen.“ Es sind die konträren künstlerischen Grundhaltun-gen, die Charles Baudelaire (in gänzlich anderem Zusammenhang) beschrieb: „Die große Klasse der Künstler, also der Menschen, die sich ganz dem Ausdruck durch die Künste gewidmet haben, kann man in zwei deutlich getrennte Gruppen unterscheiden. Diejenigen, die sich Realisten nennen – ein doppeldeutiges und nicht genau definiertes Wort – und die wir, um ihren Irrtum deutlich herauszustreichen, Positivsten nennen, und die sagen: 'Ich will die Dinge so wiedergeben, wie sie sind, oder besser: wie sie wären, wenn ich nicht da wäre.' Das Universum ohne den Menschen. Und die andere, die Gruppe der Phantasiereichen, sagt: 'Ich möchte die Dinge durch meinen Geist erleuchten und ihren Widerschein auf die anderen Geister abstrahlen.'“ (3) [Hervorhebungen vom Verf.]  – Übertragen: einerseits Musik, wie sie idealerweise in ihrer historischen Gestalt klänge, wenn der Interpret nicht da wäre, andererseits Musik, durch den Geist des Interpreten erleuchtet und im Widerschein auf die Hörer einwirkend.

Symptomatisch ist, dass Nikolaus Harnoncourt, der radikale Verfechter der historisch informierten Aufführungspraxis, die Begründbarkeit der künstlerischen Entscheidung zum obersten Prinzip erhoben hatte. In seinen Interviews  gab er immer wieder zu Protokoll, jeder Dirigent, unter dem er bei den Wiener Symphonikern gespielt habe, habe seine individuelle Werksicht durchzusetzen versucht, „aber keiner konnte mir je begründen, warum er das so haben will“. Dem wäre zu entgegnen: „Wenn ihr's nicht erfühlt, ihr werdet's nicht erjagen.“ Die intellektuelle Verbalisierung und die argumentative Begründbarkeit jeder künstlerischen Entscheidung, abgesichert durch die Vorgaben des historischen Regelwerks, wurden für Harnoncourt die maßgeblichen Instanzen und sind es immer geblieben, auch wenn er sich in späteren Jahren „freizuschwimmen“ versuchte. Der Titel eines Buches über Harnoncourt brachte das in unfreiwilliger Komik auf den Punkt. Wenn andere Menschen mit dem Herzen fühlen, gilt für ihn das „Denken mit dem Herzen“. Ein permanentes Rechthaben-Wollen aufgrund der einmal aufgestellten Theorie durchzog immer seine öffentlichen Äußerungen. Ein Paradebeispiel dafür war ein Interview im Bachjahr 1985 im SFB, in dem der Redakteur Klaus Lang ankreidete, dass der siebte Ton g des Horn-Solos im Thema der „Quoniam“-Arie der Hohen Messe auf dem Naturhorn fehle, sich dort also eine „Leerstelle“ in der Melodie befinde. Harnoncourt bestritt dies vehement. Da die Tontechnik in der Nachbereitung immer wieder die betreffende Stelle aus Harnoncourts früher Einspielung hinter seine Argumentationen hineingeschnitten hatte, in der der Ton vielleicht angeblasen, jedoch tatsächlich nicht zu hören war, entstand für den Hörer eine geradezu groteske Szene eines ebenso verzweifelten wie unbegründeten Beharrens auf einer falschen Aussage. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein.

„Das Talent lernt alles, das Genie weiß alles“, sagt Goethe. Es ist evident, wie wenig künstlerisch der Rückzug in die Faktengläubigkeit ist, wie wenig kreativ die „Entscheidung nach den Regeln“ sein kann. Die Sterilität der frühen Aufnahmen Harnoncourts, wiewohl zu ihrer Entstehungszeit von der Kritik als das exotisch Neue hochgelobt, wird heute allgemein nicht mehr geleugnet, sie gelten bereits wieder als „veraltet“. Vor allem beeinflusst von Harnoncourts Aversion gegen alles „Romantische“, besonders des „romantischen“ Ausdrucks in der Musik, klangen sie wie in der Versuchsanordnung einer Retorte entstanden und stießen viele Hörer vor den Kopf, nicht wenige zweifelten daran, dass dieser Richtung die Zukunft gehören könne. Der zeitweilige Weggefährte in Harnoncourts Frühzeit, Eduard Melkus, sprach später  von einer „Eingleisigkeit und einseitigen Art“ des Musizierens, dem „werkstatthaften Ausstoßen“ einer Aufnahme nach der anderen, dem jedoch die „lebendige Auseinandersetzung“, ein „Sich-Auseinandersetzen-Müssens“ zunehmend fehlte. (4) So ganz fehl ging also auch Karl Richter nicht, als er 1975 in einem Interview zu seiner Meinung über „puristischen Bach-Aufführungen unserer Zeit“ befragt wurde: „Ich habe nichts dagegen – wenn sie nur etwas musikalischer wären. Ich interessiere mich sehr für einen puristischen Bach, aber ich bin bisher noch nicht einem 'Puritaner' begegnet, der auch musikalisch ist.“ (5) – Wissenschaftliche Forschungsergebnisse ersetzten nun also die künstlerische Intuition. Der historisch informierte Musiker machte sich unangreifbar, die Macht des Faktischen erhob ihn zur Autorität. Er behauptet, die Absichten des Komponisten zu kennen und erklärt sich zu seinem Kronanwalt. „Unausgesprochen ist damit bereits postuliert, dass, wenn man damals Bach so gespielt hat, er heute auch so gespielt werden müsse. Werktreue, und sei sie auch noch so theoretisch, geht vor Musikausübung. Dem Buchstaben des Gesetzes wird mehr Treue geleistet, als dem Geist der Musik.“ (6) Das Röntgenbild der Partitur trat an die Stelle eines Werks von Fleisch und Blut. Das wissenschaftliche Argument erschlug die eigenpersönlich-künstlerische Individualität der Konkurrenten.

Der verdienstvolle Pionier der Vor-Bachischen Musik in Deutschland, Reinhard Goebel, brachte sein Unbehagen am genuin künstlerischen Musizieren zum Ausdruck, als er seine eigene Interpretation als eine „berechenbare“ bezeichnete, bei der die Musiker nicht mehr in voller Aufmerksamkeit auf der Stuhlkante sitzen müssten, um jederzeit den „Eingebungen“ eines Meisters folgen zu können. Es ist nun aber einmal so, dass im echten künstlerischen Akt in Literatur, bildender Kunst und eben auch in der Musik, der Künstler nicht umhin  kommt, sich selbst, indem er zum Werk persönlich Stellung bezieht, zu erkennen zu geben, sich quasi psychisch zu entblößen. Karl Richter machte sich gewiss angreifbar, indem er eben dies tat, sich persönlich in seiner Musik entäußerte, die eigene Inspiration und Emotion im „Hic et Nunc“ zum Mittelpunkt seiner Interpretationen machte. Nur wenige große Dirigenten gingen dieses Risiko der „unausrechenbaren“ Interpretation ein, Wilhem Furtwängler, Bruno Walter, Hans Knappertsbusch, Karl Richters ausgewiesene Vorbilder, gehörten dazu, ebenso Richters Freund Rudolf Kempe oder auch Klaus Tennstedt. In der Gegenwart fehlen sie fast gänzlich, die nachschöpferische Autorität am Dirigentenpult wird unter den Generalverdacht der Selbstdarstellung gestellt. Der Dirigent Christian Thielemann ist eine der rühmlichen Ausnahmen, entsprechend viele Anfeindungen muss er von Kritikerseite dafür einstecken. Thielemann kommentierte das Phänomen auf seine direkte Art: Ich weiß schon, dass ich von meinem Naturell her für eine Richtung der Interpretation stehe, die einer Seite nicht gefällt. […] Ich bin ein liberaler Konservativer. Ich will eine bestimmte Art zu musizieren bewahren, die andere über Bord geworfen haben. Es ist diese freie und freizügige Musizierhaltung von Hans Knappertsbusch, Wilhelm Furtwängler oder Bruno Walter. Denen wird ja vorgeworfen, sie hätten alles romantisch überzuckert. Das sehe ich gar nicht so. Die trugen vielleicht noch einen Spitzkragen, hatten aber eine viel freiere und lockerere Art zu musizieren. Dagegen haben heute in der angeblich freiesten Zeit manche Leute einen musikalischen Spitzkragen und ballern uns mit Ideologien voll.“ (7)

Es ist ein unaufgelöstes Paradoxon, dass aus dem revolutionären Aufbruch der musikalischen Historisten aus dem Geist der 1968er Generation gegen etablierte Autoritäten wie Karl Richter oder Herbert von Karajan ein in Erz gegossener Dogmatismus mit dem Anspruch auf die „allein seligmachende Wahrheit“ wurde, der heute nicht mehr in Frage gestellt wird; dass die künstlerische Freiheit des Interpreten durch eine Ideologie des starren Regelwerks ersetzt werden konnte. „'Werktreue' lautete der Schlachtruf der neuen aufführungspraktischen Bewegung, […]. Die Bewegung brachte einen Dogmatismus hervor, dem alles Historisierende per se gut und jeder ästhetische Fortschritt als verwerflich gilt. Seither stehen viele Bach-Aufführungen unter einem unglücklichen Stern: Je mehr sich die selbsternannten Werktreuen mit ihren restaurierten Instrumenten dem Klang der Barockzeit anzupassen versuchten, desto weiter entfernten sie sich von Bachs geistlicher Substanz. Die gilt heute als total überholt. […] Bachs altmodischer Reliogionskram, soviel steht für das Kultur-Establishment fest, hat in einer Zeit, in der Greenpeace im spirituellen Lifestyle eine wichtigere Rolle einnimmt als die Kirche, nichts zu suchen. […] Die Johannes-Passion ist zum Event der Beliebigkeit mutiert. Das Publikum schwelgt in Arien wie 'Von den Stricken meiner Sünden' oder 'Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken', als stünden sie auf einer Stufe mit 'O soave fanciulla' aus Puccinis Bohème. Hinterher wird geklatscht und gejubelt wie in der Oper. Lange vor den Tagen des unaufhaltsamen Aufstiegs der FC-Bayern-Mischpoke aber gab sich die Münchner Schickeria noch gerne kultiviert. Damals besuchte man alljährlich Richters Passionsaufführungen, das Weihnachts-Oratorium und die h-moll-Messe. Richter war ein Star. […] Dennoch herrschte eine von ihm verordnete Andacht. Nach Verklingen des letzten Tons rührte sich keine Hand. [...]“ (8) So schilderte Reiner Luyken in seiner Betrachtung über die Johannes-Passion den Wandel vom Einst zum Jetzt des Jahres 2014. Die eigentlich tragische Kehrseite der Medaille war, dass die neuen Denkverbote des Historismus der traditionellen Aufführungspraxis vor-romantischer Musik jedenfalls weithin den Todesstoß versetzten. So wie es die große Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf nach dem Besuch einer von Harnoncourt dirigierten „Figaro“- Vorstellung bei den Salzburger Festspielen 1995 zu Protokoll gab: „Hier wird die Arbeit einer ganzen Generation vernichtet!“ Und es sei nochmals an Hermann Hesse „Morgenlandfahrt“ erinnert: „Die ganze Weltgeschichte scheint mir oft nichts anderes zu sein als ein Bilderbuch, das die heftigste und blindeste Sehnsucht des Menschen spiegelt: die Sehnsucht nach Vergessen. Tilgte da nicht jede Generation mit den Mitteln des Verbots, des Totschweigens, des Spottes immer gerade das aus, was der vorigen Generation das Wichtigste schien?“ (9)

Wie sehr die Musiker unserer Zeit, selbst so profilierte wie den designierten Oratorien-Papst Hans-Christoph Rademann, die „Schere im Kopf“ in den künstlerischen Entscheidungen lenkt, wurde in einem Werkgespräch über Bachs Hohe Messe im Deutschlandradio Kultur im Januar 2016 deutlich, als er seinen Interpretationsansatz erläuterte: „Es muss das Bekenntnishafte drin sein, also eine Kraft haben. Es wird also nicht federleicht sein, sondern es wird kräftig. Aber das Kräftige ohne Erstarrung, flexibel im Klang. Natürlich ungemein vom Wort ausgehend, so dass man das Wort verlebendigt. Das  ist für mich existenziell bedeutsam, man muss den Gedankenraum anreissen, der hinter den Worten ist. […] Die Überzeugungskraft, die Überwältigung, das ist der Weg, den ich im Prinzip versuche einzuschlagen. Und 'Silbermann', das ist für mich auch ein entscheidendes Wort. Das klingende Exponat ist vorhanden und diese faszinierende Klangmischung sollte man auch auf das Orchester und den Chor übertragen, um einfach auch relativ auf der sicheren Seite zu sein, wie könnte es geklungen haben. […] Und ich glaube, dass zur Wahrhaftigkeit eben auch dazugehört, möglichst nah an die klangliche Qualität der Bachzeit heranzukommen.“ (10) Wenn auch das Bekenntnishafte, die Überwältigung Ziele einer Interpretation sein sollen – da ist sie dann doch wieder, die Rückversicherung der eigenen Haltung in der „Wahrhaftigkeit“ einer historischen „Richtigkeit“. Das Verharren „in der Reizschwelle seiner [Bachs] Zeit“ (10)  bremst den Interpreten in seinen Möglichkeiten aus. Dass dann doch in der klanglichen Realisierung bei Rademann die Chorstimmen etwa in den Fugeneinsätzen des Credo I so gar nicht „überwältigend“, sondern eher flau, geradezu substanzlos und brav klingen, steht auf einem anderen Blatt. Da haben sich die Hörerwartungen offensichtlich erheblich in Richtung eines Mainstreams gewandelt. Und nota bene: Auf Silbermann als das "klingende Exponat" konnte sich auch Karl Richter, an der größten Silbermann-Orgel im Freiberger Dom aufgewachsen, legitim berufen. Allerdings bekannte er sich im Klangbild seiner Bach-Aufführungen auch zur fast raumsprengenden Klangfülle ihres Organo pleno, das eben auch die "Reizschwelle der Zeit Bachs" bestimmte!

Ein Nachtrag am Rande zu zwei erst jüngst in der "Szene" verlautbarten Äußerungen zum Thema "Orgel":

Im Programmheft zum Abschlusskonzert des Musikfests Stuttgart, veranstaltet durch die Internationale Bachakademie Stuttgart, hieß es: "Im Jahr 2013 wurde in der Schlosskapelle von Seerhausen, in der Nähe von Riesa, ein schwer beschädigtes Truhenpositiv (eine tragbare Kastenorgel) gefunden, von dem nahezu sämtliche Orgelpfeifen und die Klaviatur fehlten. [...] Eingehende Untersuchungen und Vergleiche des erhaltenen Materials (darunter eine Zinnpfeife, eine Taste und das Schnitzwerk auf dem Einsetzer unter der Klaviatur) mit komplett erhaltenen Orgeln aus dem 18. Jahrhundert [...] erbrachten schließlich den Nachweis, das es sich bei dem Truhenpositiv aus Seerhausen um ein Instrument aus der Werkstatt des berühmten sächischen Orgelbauers und Bach-Zeitgenossen Gottfried Silbermann handelt. [...] hat die Internationale Bachakademie von der Orgelbauwerkstatt Wegscheider (Dresden) einen Nachbau dieses Truhenpositivs von Gottfried Silbermann anfertigen lassen. Als Exponat eines mitteldeutschen Barockklangs verkörpert er das Herzstück einer neuen Ensemblekultur aus Chor und Barockorchester mit historischen Instrumenten. [...] Als originalgetreues Exponat barocker Klangvorstellungen verkörpert dieser Nachbau das ideelle Zentrum einer Bachakademie der Zukunft." (11)

Man lasse es sich auf der Zunge zergehen: Ein praktisch nicht mehr vorhandenes Instrument, von dem man einen allenfalls hypothetischen Nachbau herstellen kann, soll hier zum "Herzstück einer neuen Ensemblekultur" und "ideellen Zentrum einer Bachakademie der Zukunft" werden. Treffender könnte man die Hybris dieses Denkens nicht formulieren: Der Fetisch des hypothetisch rekonstruierten historischen Instruments (einer praktisch nicht mehr vorhandenen Truhenorgel) wird zur Zukunft erklärt... Genau das versucht die historische Aufführungspraxis den Hörern seit Jahrzehnten weiszumachen. - Dass unter der Führung ihres neuen Leiters Hans-Christoph Rademann der Weg der Bachakademie Stuttgart  "zurück in die Zukunft" sich mittlerweile - und darin nur konsequent - auch in der retrospektiven Umbenennung ihrer Ensembles in "Gaechinger Cantorey" dokumentiert, darf als Sahnehäubchen auf dem "Schmarrn" goutiert werden.

Ein anderes, weit erfreulicheres Statement zum Thema "Orgel bei Bach" kommt dagegen von Christoph Spering, der gerade eine vier CDs umfassende Ausgabe der "Luther-Kantaten" von Bach veröffentlicht hat. Im Klangbild seiner Bach-Aufnahmen fällt unüberhörbar die überaus präsente und profunde Orgel auf. Er lehnt die Verwendung eines schmalbrüstigen Orgel-Portativs ab: "Die Orgel Bachs gehört in den Mittelpunkt. Wir müssen davon ausgehen, dass das Ganze auf einer großen Orgel gespielt wurde. Denn diese Truhenorgeln, mit denen wir heutzutage zu reisen pflegen, gab es ja damals zwar als kleine Hausorgel, aber nicht als Reise-Orgeln. Unsere Orgel ist auch eine Truhenorgel, die etwas größer disponiert ist und in ihrer Grunddisposition etwa einem Registerfundus entspricht, der in einem Bachschen Brustwerk (auf Prinzipal 4'-Basis ) vorhanden gewesen sein könnte. Aber wo hört man sonst eine Aufnahme, die sich zur Orgel bekennt, wo die Orgel im Mittelpunkt steht - beim Organisten Bach! - und die tatsächlich dann ab und an führend ist?" (12)

Wenn auch hier wie immer der Konjunktiv den Ton angibt - in diesem Verständnis der Orgel als klanglich präsenter Folie hinter dem chorischen und instrumentalen Geschehen befindet sich der "westdeutsche" Spering in über- raschender Nähe zum Sachsen Karl Richter, in dessen Bach immer der leuchtende Orgelklang das Klangbild prägte. Dies dazu auch in seinem - allerdings ebenfalls historisierend verfremdeten - beherzt-energischen, temperamentvollen Zugriff aufs Werk. Darin unterscheidet sich Christoph Spering, ähnlich wie John Eliot Gardiner, wohltuend von den Leisetretern und Wirkungs-Verweigerern in der Alten-Musik-Szene.


Es bleibt festzuhalten: Bis heute ist die historische Aufführungspraxis den Nachweis schuldig geblieben, warum Bach und die vor-romantische Musik historisch korrekt realisieren werden müssten. Sie hat uns wohl gelehrt, diese Literatur wieder neu zu hören, und uns darüber informiert, wie sie zu ihrer Enstehungszeit vermutlich geklungen haben wird. Warum dies für die Zukunft im 21. Jahrhundert nun aber der einzig verbindliche Zugang zu ihr bleiben sollte, ist damit nicht erklärt. Selbstverständlich ist die Verwendung historischer Instrumente „richtig“ und sie vermitteln ein überraschendes, ungewohntes Klangbild von exotischem Reiz und sie mögen andere Spielweisen erlauben; auch kann man das Ergebnis „schön“ finden, muss dies aber nicht tun. Bei manchem Hörer mit zeitgenössischen Ohren löst das Spiel ohne Vibrato noch immer ein Schockerlebnis aus, das Bach so eben nicht vorgesehen hatte. Sich damit abzufinden, fällt nicht jedem Hörer leicht. Sinfonieorchester mit langer Tradition, besonders die der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland, werden ihrer Identität beraubt und von einem „Coach“ der HIP-Szene dem Zeitgeschmack eines vibratofreien Spiels unterworfen. Das von Sergiu Celibidache geformte SWR-Sinfonie-Orchester Stuttgart ließ sich von Roger Norrington einen fragwürdigen „Stuttgart Sound“ beibringen, der sogar bei den Spätromantikern eine „Klang-Magersucht“ verursachte, und es tat geradezu weh, als die einzigartigen Wiener Philharmoniker sich in einer Messias-Aufführung beim Salzburger „Pfingsten Barock“ Festival willfährig dem Diktat des vibratoarmem Spiels desselben Dirigenten unterwarfen. Geschieht dies in Anbiederung an den Mainstream? Beim Gesang ist es kaum besser: Der Hörer wird fast nur noch mit „Half-voice“-Stimmen abgespeist, die fast durchweg unpersönlich und ununterscheidbar, damit austauschbar klingen; in den hohen Stimmen wird das noch gefördert durch ein neues Klangideal des Androgynen, der Stimmen „ohne Unterleib“. Die Sopranstimmen der Damen werden auf den geraden, "wie  mit dem Lineal gezogenen", körperlosen Klang von Knabenstimmen getrimmt, der schon früher bei den englischen Knabenchören unangenehm auffiel. Der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Interpreten der Altlage verschwimmt vage. - Darüberhinaus gibt es auch keinen plausiblen Grund, weshalb Bach um jeden Preis immer schneller und schneller gespielt werden müsste. Seine Musik birgt so viele Schönheiten im Detail, dass sie es wert sein sollte, das Ohr auch in ihr „ruhen“ zu lassen. Manche theologische Aussage in Bachs geistlicher Musik wird durch ein verhetztes Tempo geradezu konterkariert. – Auf den Einwand, diese Musik falle aber doch ins Ohr, erwiderte C. Ph. E. Bach einmal: „Sie fällt hinein und füllt es aus, lässt aber das Herz leer.“

Die modernen kleineren Besetzungen bringen oft eine größere Durchhörbarkeit der Partitur. Die aber haben große Dirigenten wie Karl Richter mit seinem Gespür für das polyphone Geflecht durch die Arbeit an den einzelnen Stimmern auch schon früher erreicht. Überhaupt sollte der Fetisch „Durchhörbarkeit“ nicht überbewertet werden. Wenn eine bedeutende Musikwissenschaftlerin wie Ingeborg Allihn in einer Schallplatten-Besprechung sogar von der Durchhörbarkeit eines Rezitativs in Harnoncourts Interpretation schwärmt, an dem wohlgemerkt nur die Singstimme, ein Cello und ein Orgelpositiv beteiligt sind, wird die Fragwürdigkeit dieses Fetischs evident. Dieser Fetisch wird auf die Spitze getrieben, wo der musikalische Historismus sich in Experimente versteigt etwa der Theorie, dass eine erhaltene Instrumental- oder Singstimme in Bachs autographem Aufführungsmaterial bedeute, dass auch nur jeweils ein Spieler oder Sänger diese Stimme realisiert habe, selbst in den großen Chorsätzen. Bachs Hilferufe an den Rat der Stadt Leipzig um die Finanzierung von mehr Mitwirkenden für seine Aufführungen werden dabei geflissentlich ignoriert. Nebenbei bemerkt machen diese Eingaben Bachs deutlich, dass er nie mit den bestehenden Bedingungen für seine Aufführungen zufrieden war, liebend gern hätte er einen größeren Apparat zur Verfügung gehabt.

Immerhin macht Hans-Christoph Rademann in diesem Punkt Zugeständnisse: „Ich wollte auch die Klanglichkeit des Chores – und meine Tradition kann ich nicht verleugnen: Ich bin aufgewachsen in der sächsischen Kantoreitradition. Und ich weiß auch, dass Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach sich beklagt haben über das Personal, sie hatten Notstand, sie hatten wenig Leute, so dass ich eigentlich nicht zu dem Schluss kommen kann, dass die Besetzungen im solistischen Bereich tatsächlich die richtige Entscheidung ist. Man muss schon davon ausgehen, dass man, wenn man gute Leute hatte, die auch hat singen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bach, wenn er drei, vier gute Soprane gehabt hätte, die nach Hause geschickt und gesagt hätte, ihr singt nicht, es singt nur einer.“ (10) In der Diskussion über die Transparenz des Klangs, die sich in der zitierten Rundfunksendung entspann, ersetzte der Redakteur Gerald Felber (aufgrund seiner DDR-Sozialisation lange der realen historischen Aufführungspraxis entzogen und deshalb wohl einer ihrer kompromisslosesten Verfechter), da Rademann zu keiner Konzession an eine solistische Besetzung bereit war, das Wort „Transparenz“ durch den Begriff der „Konturenschärfe der Linien“ und insistierte, ob nicht doch durch eine Minimalbesetzung leichter eine „Kristallinität“ des Klangs zu erreichen sei. In der Folge verirrte sich das Gespräch bis in das „Ausmessen der Frenquenzen“ eines Tons, das noch „ein paar Kleinigkeiten um den Ton herum“ ergeben könne, die den Ton „dick“ machten, und wo man mit immer kleineren Besetzungen ein noch stärkeres klangliches „Konzentrat“ herausfiltern könne. Dies scheinen heute die Probleme der Bach-Interpretation zu sein, vom ideellen Kern der Komposition ist man dabei, entgegen Rademanns hehrer Vorsätze, doch sternenweit entfernt. Sich bei der Rekonstruktion eines „authentischen“ Klangbildes auf die damals real vorhandenen historische Größen der Aufführungsapparate zu berufen, wie es die Historisten tun, mag zwar „historisch richtig“ sein, bleibt jedoch klanglich oft unbefriedigend. Bachs Aufführungsbedingungen werden kaum der Idealzustand gewesen sein, den es heute zu rekonstruieren gilt, um eine gültige Darstellung zu erhalten.

Wie dies auch im Einsatz der historischen Instrumente der Fall ist. Eduard Melkus sagte dazu: „Ich sehe nicht ein, warum ich mich in meinen Ansprüchen und meiner Ästhetik reduzieren soll, nur weil das Material nicht entsprechend ist. Das nehme ich übel, dass man eigentlich fast eine gewisse 'Materialistik' betreibt. Es ja ist trotzdem der Mensch, der das Instrument oder die Stimme, der die Kunst beherrscht. Das Material muss uns folgen und nicht umgekehrt, dass wir uns nach den Unvollkommenheiten des Materials richten – wenn wir doch wissen, es gibt schon ein besseres Material.“ (4) Zum „Material-Gedanken“, wie ihn hier Melkus ins Spiel brachte, gehört inzwischen sogar die explizite „Verhässlichung des Klangs“ mit Hilfe der alten Instrumente, die als ästhetische Kategorien der Wiedergabe vor-romantischer Musik eingeführt wurde. Wie Bach andererseits auf die heute üblichen Instrumente, ihre klanglichen Qualitäten und ihre erweiterten Möglichkeiten reagiert hätte, bleibt Spekulation. Man könnte aber vermuten, dass er, der so neugierig auf neue Instrumente und ihren Klang war und sie in seinen Werken verwendete, ihnen durchaus aufgeschlossen begegnet wäre. Das Argument, für moderne Instrumente hätte Bach gewiss auch anders komponiert, mag einen Kern von Wahrheit in sich bergen. Wir aber haben nun einmal das, was Bach komponiert hat. Und diese Musik ist so groß, dass sie nicht an ein bestimmtes Instrumentarium gebunden sein kann.

Die Skepsis Eduard Melkus' ist auch gegenüber den Grundfragen einer historisch informierten Aufführungspraxis groß. Er, der in den 1970er Jahren von der Schallplattenindustrie mit seiner „Capella academica Wien“ zu einem „Anti-Harnoncourt“ aufgebaut wurde, der sich selbst jedoch keineswegs nur als Spezialist für alte Musik versteht, sondern auch Werke der Romantik und der Moderne spielt, geht zur heute „modernen“ Darstellung alter Musik auf Distanz, bezeichnet sie sogar als einen „Schwindel“. Er beschäftigte sich zuletzt in Seminaren und Konzerten vor allem mit der Einordnung von Kompositionen in ihre jeweilige Entstehungszeit, denn er ist der Meinung, dass der Zusammenhang zwischen der Musik und den anderen Künsten ihrer Zeit zu wenig beachtet, ja sogar verfälscht wird. Er meint, es sei kaum anzunehmen, dass einzig die Musik aus der Ästhetik ihrer Zeit ausgeschert sein sollte und emotionslos und herunterbuchstabiert gespielt worden sei. So vermisst Melkus in der Aufführung alter Musik, wie sie heute gespielt wird, „gerade diese Wärme, die Poesie und die absolute Emotion, die in den Gemälden und Skulpturen vorhanden ist. Dabei ist doch die bildende Kunst durch ihre Statik viel gebundener und kann bei weitem nicht so emotionsgeladen sein wie die Performance-Kunst, sei's das Drama, sei's die Musik. Da fehlt mir etwas, dann habe ich das Gefühl, dort ist – bewusst oder unbewusst – ein Nebenweg begangen worden.“

Melkus wirft der aktuellen Interpretation alter Musik sogar vor, unhistorisch zu sein: „Es ist meiner Meinung nach eine Irreführung entstanden. Wobei diese Irreführung, das ist deutlich nachweisbar, sehr zeitbedingt ist, denn sie ist mit der Revolution '68 unabänderlich verquickt. Natürlich auch aufgrund ihrer ausgezeichneten Perfektion und weil diese so ganz anders war, es sich relativ leicht nachmachen lässt – dieser Verzicht auf Vibrato, das Off string-Spielen, die kurze Artikulation, die Überartikulation, das sophistische Nachdenken darüber, ist das nun eine kurze Note, ist sie betont oder unbetont, macht es einen Sinn, sie im Gesamtverlauf zu betonen. Harnoncourt spricht von der „musikalischen Rede“, aber in Wirklichkeit ist ja nicht die richtige Deklamation das einzig wichtige, sondern darüber hinaus der Satz und der gesamte dramatische Verlauf, sei es einer Ansprache, sei es eines Dramas. Ich kann mich nicht an die einzelnen Regeln klammern, sondern muss ein Gesamtbild sehen. Wenn ich das nicht sehe, bin ich der Komposition eigentlich das Wesentliche schuldig geblieben. Dort wo gesungen wird, wird von den Instrumentalisten zu sehr phrasiert und artikuliert, selbst gegen den Sinn der Worte. Im allgemeinen ist die Sprache fließend und je poetischer eine Sprache ist, je emotioneller sie wird, desto mehr ist sie.“ (4) Man könnte also sagen: Wenn schon „Musik als Klangrede“, dann doch eher im Sinne des Goethe-Worts von der „Rede Zauberfluss“. Melkus fährt fort: „Je mehr eine Stimme in Erregung gerät, desto mehr wird sie auch vibrieren, es wird ein ganz normales, emotionelles Vibrato kommen. Das kann man in den alten Quellen immer wieder lesen. Dass Musik je ohne Vibrato gespielt worden ist, kann ich nicht sehen. Man sollte wieder zu einem ganz normalen Mittelmaß zurückfinden, dann dient man der Musik mehr.“

Peter Schreier, Karl Richters bevorzugter Evangelist seit den 1970er Jahren, der selbst mit Harnoncourt gearbeitet hat und sicher der Einseitigkeit unverdächtig ist, wurde in einem Interview 2005 gefragt: „Sie sind kein Freund der 'historisierenden Aufführungspraxis'. Andererseits haben Sie mit Alte-Musik-Ensembles wie der Capella Fidicinia oder dem Neuen Bachischen Collegium Musicum zusammengearbeitet …?“ Schreier entgegnete: „Weil ich einen Unterschied mache zwischen einem engagierten, artikulierten und einem manierierten, historisierenden Bach-Spiel. Historisieren um des Historisierens willen, das finde ich furchtbar. Da geht es nur darum, unbedingt etwas anders machen zu wollen beziehungsweise eine Mode zu bedienen. Bei einer Matthäus-Passion mit einem niederländischen Ensemble zu den Ansbacher Bachwochen bin ich fast verrückt geworden, weil es da nur um Effekte und Macharten, nicht jedoch um Inhalte ging. [...] Die Beschäftigung mit Fragen der Aufführungspraxis hat viel gebracht. Doch ich kann es nicht hören, wenn man in diesem Zusammenhang von 'authentischem' Musizieren spricht. Denn Authentizität gibt es in diesem Fall überhaupt nicht. Keiner von uns weiß, wie es bei Bach geklungen hat.“ (13)

Die immer wieder behauptete „Authentizität“ der historisch informierten Praxis erinnert fatal an Famulus Wagners „Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht“, nachdem er sich in den „Geist der Zeiten“ versetzt hat. Doch Faust erwidert ihm: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln. Da ist's denn wahrlich oft ein Jammer!“ Könnte nicht auch die vermeintliche „Authentizität“ eher „der Herren eigner Geist“ sein als der der „Zeiten der Vergangenheit“? Das wäre in der Tat ein Jammer.

Auch Georg Christoph Biller, der erste Leipziger Thomaskantor, der mit historisch informiert spielenden Orchestern, etwa Concerto Köln, zusammenarbeitete, sprach in einem Interview im Bach-Jahr 2000 noch von der „so genannten authentischen“ Aufführungspraxis und vermutete hinter diesem Begriff mehr Medienkonstrukt und Werbecoup denn einen Wahrheitsgehalt. Er erinnerte daran, dass Bach für Wiederaufführungen seine Werke meist bearbeitet, oft instrumental „neu einkleidete“, wie er es auch mit Vorlagen anderer Komponisten zu tun pflegte. Die Bearbeitungsphantasie Bachs kannte kaum Grenzen. Schon diese Tatsache widerspricht nach Biller dem Streben, Bach „so original wie möglich“ zu machen. „Diese Geisteshaltung, dass es so original wie möglich sein sollte, ist nicht ausreichend für die Darstellung Bachscher Musik. [...] Ich selbst bin auf der Suche nach einer Bach-Interpretation, die genügend Erfahrung aus der historischen Aufführungspraxis gesammelt hat, das typische Musizieren der Barochzeit wirklich zur Kenntnis nimmt.“ Auch er war jedoch der Meinung, dass sich Bach etwa für die Monumentalität des Eingangschores der Matthäus-Passion sicher eine mittelgroße Besetzung in der Stärke der heutigen Thomaner hätte vorstellen bzw. wünschen können. Anders als meist üblich, ging das Gespräch hier auch auf den Inhalt des Werks bei Bachs ein. Auf die Frage, ob er es für notwendig halte, dass Dirigent und Ausführende sich der Religiosität Bachs annäherten, erinnerte Biller an die beiden Extreme, eineseits Bach streng religiös als der „fünfte Evangelist“, andererseits der aus dem kirchlich-liturgischen Kontext völlig losgelöste Bach, den man in der DDR proklamierte. Dagegen weise Bachs Musik weit über das „nur Christliche“ hinaus und es wäre daher zu eng gefasst, zu denken, man müsse notwendigerweise Christ sein, um Bach angemessen interpretieren zu können. Er nannte aber das Verständnis für die tiefe Frömmigkeit Bachs und seiner daraus resultierenden tiefen Demütigkeit, aus der ein Riesenwerk entstanden sei, einen Schlüssel zum Verständnis seiner Musik. Der Interpret könne in der Erkenntnis der geistigen und geistlichen Haltung Bachs, die sich in der „Beschwörungsformel“ des „Soli Deo Gloria“ ausdrücke, einen noch größeren Reichtum empfangen. (14)

Angesichts so vieler Unwägbarkeiten und offener Fragen, die im allgemeinen Konsens der Historisten gar nicht mehr zur Diskussion gestellt werden, bleibt die grundsätzliche Frage unbeantwortet: Warum sollten wir Bach und die Musik seiner Zeitgenossen  n u r  n o c h  in der Art hören dürfen, wie sie vor 300 Jahren aufgeführt wurden? Warum sollten zeitgenössische Musiker sich nicht wieder die Freiheit nehmen dürfen, diese Musik für ihre Zeit wieder neu zu hören? Denn so wie Komponisten heute auch nicht immer die besten Dirigenten ihrer eigenen Werke sind, so dachte Bach in den Dimensionen, die er kannte. Andererseits wird er von den Aufführungen seiner Werke in der Thomaskirche mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln kaum immer überzeugt gewesen sein. Gewiss müssen die Intentionen des Komponisten in eine Realisation miteinbezogen werden. Dazu ist der Interpret unserer Tage auch mehr als in früheren Zeiten in den Stand gesetzt. Daraus sollte aber kein „moralischer“ Anspruch auf die einzig gültige „Wahrheit“ abgeleitet werden. Erst wir Zeitgenossen mit unseren durch die Musik der späteren Epochen erweiterten Hörerfahrungen können ja den „utopischen Überschuss“, den die großen Kunstwerke bergen, überhaupt wahrnehmen, das was im Werk über seinen zeitverhafteten historischen Ort hinausweist, was womöglich der Komponist selbst noch nicht gewusst hat. Das, was das historisch verortete Werk erst zum überzeitlich gültigen Kunstwerk macht, das in der Zeitgenossenschaft immer neu befragt werden kann und muss. Alle große Musik ist auch ein großes Wunder und bewahrt noch immer ein großes Geheimnis. Die Natur der Musik liegt verborgen in der Alchemie zwischen dem Komponisten und seinem Interpreten. Die Einengung der Interpretation auf die – vermeintlichen – Intentionen des Komponisten entmündigt den Interpreten und verstellt den Blick auf diesen „utopischen Überschuss“ der Werke.

Die in historischer Aufführungspraxis dargebotenenWerke gleichen einem vorzüglich restaurierten gotischen Wandelaltar, der, ganz seiner Funktion gemäß an seinem historischen Ort, dem Chor einer Kirche steht, aber die meiste Zeit des Jahres geschlossen ist und nur seine Werktagsseite zeigt. Die anderen Ansichten oder gar den Schrein sieht man nur an besonderen Tagen, das Werk in seiner ganzen Fülle sieht der Betrachter jedoch nie, es bleibt ihm verborgen. Erst die Umsetzung des Altars ins Museum, die separierte Aufstellung seiner Teile, wie etwa im Unterlinden-Museum in Colmar Grünewalds Isenheimer Altar, erschließt dem Betrachter das Werk in seiner Gänze. Freilich ist es seiner historischen Funktion beraubt, doch entfaltet es nun seine volle Wirkmächtigkeit. Der Zugewinn des einen bedingt den Verlust des anderen. So sollte es statthaft sein, die immanenten Dimensionen einer Bachschen Partitur, diesen Überschuss über das historisch „Richtige“ hinaus, zum Klingen zu bringen. Dazu müsste nun auch wieder die Weiterentwicklung der Musik nach Bach in die reproduktiven Überlegungen einbezogen werden und die sinnliche Schönheit im Klang der modernen Instrumente dürfte für die Aufführung alter Musik nicht länger tabu sein. Es bedürfte vor allem aber der Interpreten, die wieder mehr als eine mit der „Wirkungsverweigerung“ historisch informierter Aufführungen konform gehende, glattgebügelt-harmlose Interpretation abzuliefern bereit sind: „Man kann in einer Dorfkirche keine Kathedrale errichten,“ brachte Andras Schiff diesen Gedanken auf den Punkt.

Man stelle sich nur einmal vor, die Theaterstücke der vergangenen Jahrhunderte würden uns in Bühnenbild, Kostüm, Gestik und Sprechweise noch immer nur in der Realisation ihrer Uraufführung präsentiert, eine Neuinterpretation durch spätere Regisseure hätte nie stattgefunden bzw. würde geleugnet und verworfen. Welcher Reichtum je zeitgenössischer Auslegung und Fruchtbarmachung ginge den Werken verloren! Um den Verlust der Auswüchse eines gegenwärtigen „Regisseurstheaters“ wäre es vielleicht nicht allzu schade, aber allein dieses Gedankenexperiment verdeutlicht das absurde Dilemma, in die die historische Aufführungspraxis die Musik geführt hat. Sie darf nicht mehr sagen, was sie uns - als Erfahrung ihrer Geschichte - sagen könnte... Im Bild gesprochen: Die "alte Musik", so verstanden, hat, im Gegensatz zum Menschen, seit 1700 nichts mehr "dazu gelernt". Sie ist dazu verurteilt, sich uns mit dem Vokabular des 18. Jahrhunderts mitzuteilen. Und das weht uns schon in den von Bach vertonten Texten fern und fremd an...

Der kirchenmusikalische Praktiker Gabriel Dessauer, der während seines Studiums bei Karl Richter im Bach-Chor gesungen hatte, formulierte das Dilemma der jungen Musiker unserer Zeit sehr deutlich: „Ich bin der Auffassung, dass das Zusammenwachsen der Welt, auch der musikalischen, zumindestens in Deutschland traurigerweise zu einem neuen Gruppenzwang geführt hat: Allgemein scheint sich die historistische Betrachtungs- und Spielweise an den Hochschulen durchzusetzen. Dort wird sie als 'allein selig machend' gelehrt und nicht nur als eine der möglichen Sichtweisen. Persönliche, davon abweichende Interpretationen findet man heute nur noch selten. [...] Ich denke, dass auf die Dauer nur eine Interpretation überzeugen kann, die wirklich dem eigenen Herzen entspringt und nicht ausschließlich die Anforderungen einer Wissenschaft erfüllt. Eine 'richtige' Interpretation ersetzt noch keine Musik. Das Wissen um die Tatsache, dass man eine Interpretation hört, die möglicherweise historisch korrekt ist, ersetzt noch keine musikalische Aussage. [...] Es besteht da ein Teufelskreislauf, der psychologisch erklärbar ist: Wer als Person unsicher ist, beruft sich gerne auf Andere, die dann als Autoritäten dargestellt werden. Zum Einen ändert dies nichts an der eigenen Unsicherheit, die sich auch nach außen überträgt, zum anderen gibt man diese Unsicherheit an die nächste Generation weiter, indem man diese Autoritäten als unbedingt zu befolgende, als Wahrheiten darstellt. Historismus, auf welchem Gebiet auch immer, ist häufig Folge und Ausdruck der Ratlosigkeit einer ganzen Generation, das jeweilige Fachgebiet betreffend. Vielleicht ist dies auch eine Frage des Charakters: Es ist allemal leichter und entspricht dem 'Weg des geringeren Widerstands', sich der Meinung einer Mehrheit anzupassen und barocke Musik im gängigen Stil wiederzugeben. Es würde Mut und Zivilcourage erfordern, eine andere Meinung öffentlich zu vertreten (was Deutschen bekanntlich auch im politischen Leben schon öfters besonders schwer fiel [...]). 'Wer immer in die Fußstapfen anderer tritt, hinterläßt keine eigenen Spuren'.“ (6)

Heute sind viele Hörer beim Erklingen der  ersten Takte älterer Aufnahmen von Barockmusik  schnell mit dem harten Urteil „Das ist altmodisch“ oder – was ihnen noch schlimmer gilt –  „Das ist romantisch!“ bei der Hand. Andere gehen noch weiter und halten alle Interpretationen aus älterer Zeit grundsätzlich für „falsch“. Vor der Geschichte scheint es daher umso wichtiger, entgegen dem zeitbedingten, scheinbar alles andere verschlingenden musikalischen Mainstream immer wieder die historischen Leistungen vergessener oder wegen ihrer einmal als allzu dominant empfundenen Vorrangstellung „in Ungnade gefallener“ Musiker, zu denen gerade auch Karl Richter immer noch zählt, einem gegenwärtigen Publikum in Erinnerung zu rufen, um das über den Zeitgeschmack hinausgehende Zeitlose, Allgemeingültige, ja, das Wort sei riskiert: die „Schönheit“ ihrer Interpretationen zu vergegenwärtigen und zu bewahren! So wie es in der Musik keinen „Fortschritt“ an sich, sondern allenfalls eine Weiterentwicklung geben kann, so kann es in dieser Weiterentwicklung auch kein „richtig“ oder „falsch“ im Sinne eines „modern“ oder „altmodisch“ bzw. „authentisch“ oder „nicht authentisch“ geben. Jedes Musizieren an sich ist authentisch, jede Interpretation wird im Sinne Karl Richters ein „Versuch“ bleiben. Über Karl Richter wurde einmal geschrieben: „Richter sieht Bach mit den Augen eines musikwissenschaftlich hervorragend beschlagenen Kenners, aber er musiziert ihn andererseits auch mit dem Herzen eines ganz seiner Zeit zugewandten Musikers. Daraus ergibt sich für den Zuhörer jene beruhigende Sicherheit, die er nur bei seltenen Gelegenheiten finden kann: dass nämlich alles, was er hört und erlebt, seine Richtigkeit, seine Ordnung, seine Logik hat, und dass es dennoch nicht aus der sklavischen Unterwerfung unter philologischen Zwang kommt, sondern aus einer schöpferischen Freiheit, die sich im gegebenen Augenblick auch über historische Normen hinwegsetzt, um den Anschluss an den Menschen von heute mit einer ganz anderen Hörerfahrung zu finden.“ (15)

Der Stil musikalischer Interpretationen wandelt sich in der Zeit und spiegelt immer nur den „Geschmack“ der Zeit wider. Unsere Zeit bedürfte – auch in der Musik, in der die historisch informierte Aufführungs-praxis zum Mainstream geworden ist – wieder eines neuen Nachdenkens über Utopien, das neue Alternativen erschließen könnte, sie bedürfte des Kantschen „Die Einbildungskraft in Freiheit setzen“. Unsere Zeit braucht wieder mehr von den Künstlern, von denen Charles Baudelaire schrieb: „...die Gruppe der Phantasiereichen sagt: 'Ich möchte die Dinge durch meinen Geist erleuchten und ihren Widerschein auf die anderen Geister abstrahlen.'“ (3) Karl Richters künstlerisches Credo war: „Es geht um die jeweilige Ausdrucksmöglichkeit einer Partitur und nicht um die Klassifizierung ihres Stils nach historischen Gesichtspunkten,“ (16) und: „Ich bin der Meinung, dass jeder ernste Künstler das Recht hat, seinen Weg durch die Partituren zu gehen. Es gibt große Dirigenten, die eine sehr eigenwillige Matthäus-Passion dirigieren. Man kann anderer Auffassung sein, aber man wird zugeben, dass es jedesmal ein Ereignis ist.“ (17) Insofern wird Karl Richters Künstlertum und Lebensleistung eine zeitlos gültige Verpflichtung bleiben – nicht zur Nachahmung eines einmal Gefundenen, sondern zur anregenden Aufmerksamkeit für die Interpreten, die es wieder neu „versuchen“ werden.


Anmerkungen:

1 Joachim Kaiser, Sprechen wir über Musik, München, 2012

2 Zitiert nach „Es erhub sich ein Streit“, Hessischer Rundfunk, Frankfurt, um 1972

3 Charles Baudelaire, Die Fotografie und das moderne Publikum, Salon, 1859

4 Eduard Melkus / Rainer Baumgärtner, Zur Person: Eduard Melkus, SWR, o. J.

5 G. Haffner, Interview mit Karl Richter, München, Herkulessaal, 8. 4. 1975. Bayerischer Rundfunk

6 Gabriel Dessauer, Historisches Orgelspiel, 1999, http://gabrieldessauer.de/index.htm

7 Christian Thielemann, Wenn alles zusammenbricht, Interview in Die Zeit, Nr. 13, 24. 3. 2011

8 Reiner Luyken, Vom Einschlagen der Nägel, Die Zeit, 10. 4. 2014

9 Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt, Berlin, 1932

10 Hans-Christoph Rademann / Gerald Felber, Rückschau und Vision – Die h-moll-Messe, DRKultur, Sendereihe „Interpretationen“, 17. 1. 2016

11 Internationale Bachakademie Stuttgart, Programmheft zum Abschlusskonzert des Musikfests Stuttgart 2016, S. 42ff.

12 Christoph Spering, Deutschlandfunk, Sendung Musik-Panorama, 31. 10. 2016

13 Peter Schreier, Interview „Wie sehr diese Matthäus-Passion …“, GewandhausMagazin Nr. 47, Leipzig, 6 / 2005

14 Georg Christoph Biller / Reinhard Luscher, Interview, NDR, 2000

15 Eb., Und wieder feiert Ottobeuren Jubiläum, Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe, 23. 6. 1966

16 Wolfgang Stauch-v. Quitzow, Im Namen Bachs durch die Welt, Sonntagsblatt, Nr. 52, 25. 12. 1966

17 Karl Richter, in Egloff Schaiger, Musik und ihre Interpreten, Bayerischer Rundfunk, 1964; in leicht gekürzter Fassung auch im Buch Egloff Schaiger, Warum der Applaus, München, 1968