Lesen Sie hier in lockerer Folge Beobachtungen und kritische Anmerkungen zum Thema!
Die Erkenntnis kommt spät... :
" 'Ich sehe die Zukunft der Orchestermusik des Barock in den Händen moderner Ensembles - der Fetisch 'Originalinstrument' hat ausgedient, nicht aber der profund gebildete Fachmann. Denn nicht das Instrument macht die Musik, sondern der Kopf", ist der Geiger, Dirigent und profunde Originalklangspezialist Reinhard Goebel heute überzeugt. Am 31. Juli feiert die "Ikone der Alten Musik" ihren 70. Geburtstag. "
(Zitiert nach ORF, Online-Tagesprogramm für Samstag, 16. 7. 2022)
6. Oktober 2020
In einer Arte-Sendung über Violinsonaten von Beethoven sagte der Pianist Frank Braley über die Wahl seines Instruments: „Man muss sich daran erinnern, dass sich Beethoven immer sehr begeistert hat über die Entwicklungen des Klaviers in seiner Zeit, das in der ersten Hälfte des 19. Jhds. einen beachtlichen Fortschritt gemacht hat. Man sieht das gerade in den Klaviersonaten dieses Komponisten. Er sagt ja manchmal, dass er für die Zukunft komponiere, man werde das in fünfzig Jahren verstehen. Er komponierte für ein Klavier, das es nicht gab. Wenn man sich seine letzten Klaviersonaten vor Augen führt, spürt man auch, dass er für ein Klavier komponiert hat, das es selbst heute noch nicht gibt, Denn es handelt sich um eine Musik aus einer eigenen Welt, einer speziellen Vorstellungskraft, die ziemlich weit weg ist, die quasi über das Klavier hinauswächst, selbst das moderne Klavier übersteigt. Ich sage, dass es nicht wichtig ist, auf welchem Klavier man diese Musik spielt, eben weil diese Musik so weit weg ist von den Möglichkeiten, die ein modernes Klavier bietet. Ich bin davon überzeugt, dass Beethoven frustriert war von den Möglichkeiten, die ihm das Klavier seiner Zeit bot. Er träumte von einem orchestralen Klavier, von einem viel größeren, kraftvolleren Klavier. Er schrieb Musik, die über das Klavier hinauswuchs.“
Einmal mehr sehen wir uns durch die Auffassung von Frank Braley bestätigt in unserer Vorstellung von einem „utopischen Überschuss“, der historischer Musik einkomponiert ist; dass historischer Musik ein Potenzial an Ausdruckskraft und Wirkungsmöglichkeiten eingeschrieben ist, das mit den zufälligen instrumentalen und vokalen Mitteln ihrer historischen Zeit nicht vollgültig ausgeschöpft werden kann, über sie hinauswächst.
13. Mai 2018
Bei der Leküre des Essays "Regisseurstheater" des großen Theaterkritikers Gerhard Stadelmaier fiel uns ein Goethe-Zitat auf:
"Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, dass die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen sich verbergen muss, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt."
Von diesem Begriff des Zeitgeists aus, der immer "plötzlich" aufzutreten scheint, nähert sich Stadelmaier dem Gegenstand seines Essays. Er lässt einige Beispiele Revue passieren und schließt:
"Der Plötzlichkeiten aber ist überhaupt kein Ende. Plötzlich spielen zum Beispiel alle ohne Vibrato auf dürren Darmsaiten und klirrenden Hammerklavieren die Musik des Barock und der Klassik. Kein Symphonieorchester traut sich mehr, Bach zu spielen. Die Ensembles, die einen 'Originalklang' pflegen und so tun, als könnten sie die alte Musik so spielen, wie sie zu ihrer Zeit erklungen ist, schießen wie Pilze aus dem Konzertboden. Die 'historisch informierte Aufführungspraxis' wir zum Muss, die sogenannte Klangrede, das heißt das partout dramatisch-rhetorische Aufladen auch undramatischer Musik, zum Schroffheiten-Credo. Man muss Radio-Moderatoren nur zuhören, wie sie derartige Konzerte mit den immer gleichen Verbalgirlanden ankündigen, die sich vor allem ums Wort 'Lebendigkeit' oder 'Frische' herumkringeln, um sich über die Leblosigkeit und Stumpfheit der entsprechenden Darbietungen nicht mehr zu wundern. ..." Der Autor führt diese Gedanken mit einigen Beispielen trefflich weiter!
Zitiert nach Gerhard Stadelmaier, Regisseurstheater, Reihe zu Klampen Essay, Springe, 2016, S. 18
12. Juli 2018
Ein Fundstück beim alten Nietzsche: Wie er hier über die Anverandlung des alten Materials in die Zeitgenossenschaft spricht, hat uns an das Für und Wider der musikalischen Aufführungspraktiken erinnert:
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Winckelmann's und Goethe's Griechen, Victor Hugo's Orientalen, Wagner's Edda-Personnagen, Walter Scott's Engländer des dreizehnten Jahrhunderts – irgendwann wird man die ganze Komödie entdecken! es war Alles über alle Maaßen historisch falsch, aber – modern, wahr!
(Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889, 2. Teil: November 1887 bis Anfang Januar 1889. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2. durchges. Aufl. Bd. 13. Berlin 1988, S. 140 (Nr. 11 [330]9.)
Oder wie ein blendend begabter junger Dirigent jüngst über Bach und einen seiner Interpreten sagte:
„Wie er mir der ewig Modernste zu sein scheint: Der es schrieb wie der, der es sang. Was sich über seine eigene Zeit erhob, möchte nicht wieder in diese vertrieben werden.“
12. Juli 2018
Zwei Allmächtige der HIP-Szene fielen uns in jüngster Zeit mit Stilblüten der besonderen Art auf. Der große Karl Richter lässt sie nicht los. Selbst auf den seit 37 Jahren toten Meister müssen sie noch nachtreten. Das allein ist würdelos. Dass beide - ein Österreicher, ein Brite - gegen einen deutschen Musiker, der bei Kriegsende 19 Jahre alt war, die Nazi-Keule zumindest andeuten, ist es nicht weniger.
Monsieur d'Harnoncourt-Unverzagt lässt uns posthum, veröffentlicht von seiner Gattin – der Stimme ihres Herrn – nebst anderen Unverschämtheiten gegen musikalische Kollegen, seine Eindrücke von einer Matthäus-Passion wissen, die er, wohl am Cello der Wiener Symphoniker, durchlitten hat. Die FAZ gab sein Notat wie folgt zu Protokoll:
„Eine Aufführung von Bachs Matthäus-Passion unter der Leitung von Karl Richter, den H. hier als denkfaulen Scharlatan zu demaskieren sucht, erinnert ihn an ein Wunschkonzert im Volksempfänger anno 1943: „Sonntagssendung 'Für Front und Heimat' des Reichssenders Großdeutschland, Wilhelm Strienz singt 'Glocken der Heimat', dazu die Orgel mit einem 'Muttertags-Sound'“.“
Erstaunlich: Harnoncourt, der sich in seinen ungezählten Interviews stets als Mister „Ich nenne keine Namen!“ gab, machte wenigstens in seinem Tagebuch aus seinem Herzen keine Mördergrube, sondern vertraute den intimen Blättern Klartext an. Gut, das zu erfahren. Unsere Achtung gegenüber Herrn H., den wir unsererseits im Verdacht der Scharlatanerie führen, sinkt weiterhin. -
Auch der angelsächsische Allmächtige Sir John Eliot fühlt sich bemüßigt, in seinem Opus „Musik für die Himmelsburg“ sein Mütchen an Karl Richter zu kühlen und teilt mit:
„Dann, 1967, fuhr ich […] nach München, um Karl Richter den Münchner (sic!) Bach-Chor dirigieren zu hören. Richter galt damals als der bedeutendste Interpret von Bachs Chormusik, doch selbst seine muskelspielenden LP-Aufnahmen von Kantaten hatten mich nur unzureichend darauf vorbereitet, mit welcher erdrückenden Lautstärke und Aggressivität 70 stimmgewaltige bayerische Kehlen von der Empore der Markuskirche herab die Motette Singet dem Herrn schmetterten. […] Die frenetische Art, mit der Richter am nächsten Tag in der Musikhochschule (dem ehemaligen „Führerbau“) auf einem frisierten Neupert-Cembalo die Goldberg-Variationen spielte, war ebenso wenig geeignet, mich zum Richter-Jünger zu bekehren. Wie in den meisten Aufführungen und Aufnahmen, die ich hörte, wirkte Bachs Musik auch hier düster, trist und seelenlos, ohne Humor und menschliche Züge. Wo waren die festliche Freude und ansteckende Begeisterung dieser tänzerischen Musik?“
Nun, wir ersparen uns den Kommentar, der Autor richtet sich mit diesen Worten selbst. Wir fragen nur: Warum will uns der Gesang des Monteverdi Choir heute wenigstens genauso laut und aggressiv anmuten, wie ihn Sir John Eliot in München als so abschreckend empfand? Ob dieses Eindrucks sprach ein Kritiker anlässlich der Kantaten-Aufnahmen der „Bach Pilgrimage 2000“ – selbstverständlich abfällig – von Gardiner als dem „Karl Richter redivivus“!
11. Juli 2018
Musikalische Umerziehung?
Haben Sie es nicht auch bemerkt? Ihre und unser aller musikalische Umerziehung ist – dank des unermüdlichen Bemühens der von uns finanzierten öffentlich-rechtlichen Medien – seit vielen Jahren in vollem Gange. Es ist schön, dass die ARD-Rundfunkanstalten immerhin noch an der guten alten Bach-Kantaten-Sendereihe festhalten! Doch die Programmauswahl wurde schon vor vielen Jahren auffallend eingeengt. Die Damen und Herren Redakteure für die Geistliche bzw. Chormusik machen sich ihre Arbeit inzwischen gerne etwas leichter: Vorzugsweise werden mal kurz die angekauften CDs der Mainstream-Gesamtaufnahmen, auch solcher, die noch im Entstehen sind, eingeworfen und gut ist. So erklingen Sonntag für Sonntag in deutschen Landen die immer gleichen Interpretationen der Harnoncourt, Gardiner, Suzuki, Herreweghe, Lutz – aber auch mal weniger prominente Vertreter der Zunft – Hauptsache sie spielen ihren Bach so historisch informiert, als hätten sie vor der Aufnahme noch kurz mit dem großen Meister telefoniert. Und wie wir aus der Schule wissen: Erst die Wiederholung prägt das Gelernte wirklich ein. Und so greifen die Redakteure auch gerne mal senderübergreifend zur gleichen Aufnahme – weil sie so schön ist. So bekamen wir etwa am 6. Mai 2018 gleich dreimal Gardiners Aufnahme von BWV 86 serviert – wenn das nicht hilft?
Der deutsche Rundfunk versucht den Eindruck zu erwecken, die Bach-Interpretation habe so ca. 1975 begonnen. Was davor war, ist terra incognita – war da auch schon was? Mit viel Glück schafft es vielleicht eine der inzwischen industriell digitalisierten Kantaten-Aufnahmen von Richter, Rotzsch, Biller oder Rilling in ein Programm. Die schönen Einspielungen der Thomas, Ristenpart, Gönnenwein, Thamm, Ehmann, Hellmann, Kahlhöfer, Werner et alia sind verschwunden, als hätten sie nie existiert. Denn sie sind ja nicht „politisch-historisch korrekt“ und könnten unseren Erfolg in der musikalischen Umerziehung gefährden...
Viele ARD-Anstalten haben viele Jahre hindurch, finanziert durch die Gebühren der Hörer, ganze Reihen von bemerkenswerten Einspielungen der Bach-Kantaten produziert. Der NDR mit seinen Ensembles unter Max Thurn, der BR mit Heinz Schnauffer von der Himmelfahrtskirche München, der SWR (damals SWF) mit Diethard Hellmann und seinen Mainzer Ensembles, und ganz ambitioniert der WDR mit den Knabenchören aus Windsbach (Hans Thamm), Stuttgart (Gerhard Wilhelm), Tölz (Gerhard Schmidt-Gaden und Kurt Thomas), Aachen (Rudolf Pohl) und seinem hauseigenen Collegium musicum. In allen diesen Aufnahmen wirken zudem herrliche, liebgewonnene Solisten und Instrumentalisten mit, denen der nicht nur am Mainstream der 2010er Jahre interessierte Hörer gerne einmal wiederbegegnen würde! Diese Aufnahmen sind dem Dornröschenschlaf in den Archiven anheimgegeben. Wer erweckt sie wieder? Denn: Es wäre vielleicht auch für heutige Hörer interessant zu wissen, wie man dazumal Bach mit Herz und Geist musiziert hat, fern aller Buchstaben-Gläubigkeit an papierene, selbst historisch gewordene Quellen.
Hier eine Statistik aus den ARD-Programmen der letzten Monate (? = Aufnahme ließ sich nicht mehr feststellen). So sieht die immer wieder behauptete Programmvielfalt im deutschen Rundfunk aus:
Sonntag, 6. Mai 2018
SWR BWV 86 Gardiner SR BWV 86 Gardiner HR ? BR BWV 86 Suzuki MDR ? DLF BWV 86 Gardiner NDR ? WDR ? RBB ?
Sonntag, 13. Mai 2018
SWR --- SR BWV 183 Coin HR ? BR BWV 44 Kelber MDR ? DLF BWV 44 Herreweghe NDR BWV 44 Harnoncourt WDR ? RBB ?
Sonntag, 20. Mai 2018
SWR BWV 172 Speck SR BWV 59 Gardiner BR BWV 172 Antonini MDR ? DLF BWV 74 Gardiner NDR BWV 172 Gardiner WDR ? RBB ?
Sonntag, 27. Mai 2018
SWR BWV 165 Suzuki SR BWV 129 Koopman HR BWV 165 Suzuki BR BWV 129 Kelber MDR ? DLF BWV 194 Koopman NDR BWV 176 Suzuki WDR BWV 129 Lutz RBB ?
Sonntag, 3. Juni 2018
SWR --- SR ? HR BWV 20 Herreweghe BR BWV 75 Biller MDR ? DLF BWV 20 Lutz NDR BWV 20 Suzuki WDR BWV 20 Herreweghe RBB ?
Sonntag, 10. Juni 2018
SWR BWV 2 Herreweghe SR BWV 2 Spering HR BWV 2 Suzuki BR BWV 76 Koopman MDR BWV 76 Koopman DLF BWV 2 Spering NDR BWV 2 Suzuki WDR BWV 76 Gardiner RBB ?
Sonntag, 17. Juni 2018
SWR BWV 21 Suzuki SR BWV 21 Gardiner HR BWV 135 Gardiner BR BWV 135 Suzuki MDR BWV 21 Frischmuth DLF BWV 135 Kuijken NDR BWV 135 Kuijken WDR BWV 135 Koopman RBB BWV 135 Kuijken
Sonntag, 24. Juni 2018
SWR BWV 7 Koopman SR BWV 24 Lutz HR BWV 30 Beringer BR BWV 30 Lutz MDR --- DLF BWV 30 Lutz NDR BWV 7 Wilson WDR BWV 7 Milnes RBB BWV 7 Gardiner
Sonntag, 1. Juli 2018
SWR BWV 93 Beringer SR BWV 93 Koopman HR BWV 147 Biller BR BWV 93 Gardiner MDR --- DLF BWV 88 Belder NDR BWV 93 Lutz WDR BWV 88 Suzuki
Sonntag, 8. Juli 2018
SWR --- SR BWV 170 Scholl / Oberlinger HR BWV 9 Kuijken BR BWV 170 Fink / Müllejans MDR BWV 9 Lutz NDR BWV 170 Scholl / Lutz WDR BWV 9 Lutz DLF BWV 170 Guillon RBB BWV 9 Richter
Sonntag, 15. Juli 2018
SWR BWV 107 Rilling SR BWV 187 Koopman HR BWV 186 Koopman BR BWV 186 Koopman MDR BWV 187 Suzuki DLF BWV 107 Lutz NDR BWV 54 Koopman WDR BWV 107 Herreweghe RBB BWV 107 Herreweghe
Sonntag, 22. Juli 2018
SWR BWV 136 Suzuki
SR BWV 45 Koopman
NDR BWV 178 Biller HR BWV 136 Koopman MDR BWV 45 Koopman NDR BWV 178 Biller WDR BWV 136 Suzuki DLF BWV 178 Suzuki RBB BWV 45 Gardiner
Sonntag, 29. Juli 2018
SWR BWV 94 Gardiner SR BWV 168 Lutz HR BWV 94 Suzuki BR BWV 105 Gardiner MDR BWV 105 Rademann NDR BWV 105 Herreweghe WDR BWV 168 Lutz DLF BWV 94 Gardiner RBB BWV 94 Suzuki
14. September 2017
Zum 91. Geburtstag erinnert sich auch die Deutsche Grammophon an einen ihrer erfolgreichsten Künstler: Die Oratorien von Bach werden in den bekannten Ton- und Filmaufnahmen neu vorgelegt, dazu die Tonaufnahmen auch in Blue-Ray-Audio-Qualität! Erscheinungsdatum: 13. Oktober 2017
8. Juli 2017
Eine eiskalte und geheimnislose Hohe Messe
Mitwirkende sprachen von „ihrem beglückendsten Musiziererlebnis im Jahr 2016". Schon deshalb durfte man auf die Neueinspielung der Messe h-moll von Johann Sebastian Bach durch Rudolf Lutz und seine J. S. Bach Stiftung St. Gallen gespannt sein. Auch anderweitig wurde heftig Lorbeer gestreut – siehe etwa die Kommentare auf der Verkaufsplattform „jpc“. Allein, der Höreindruck enttäuscht den kritischen, nicht HIP-gläubigen Hörer auf der ganzen Linie: Der Dirigent hetzt rastlos in genau 100 Minuten durch die Partitur, nirgends ein Besinnen, kein Verweilen, kein Atemholen. Das Werk rauscht, wahrscheinlich historisch korrekt – wir wissen's ja nicht -, jedoch eiskalt und geheimnislos vorüber. Musik, die, wie Carl Philipp Emanuel Bach sagte, „ins Ohr fällt, es ganz ausfüllt, aber das Herz leer lässt“.
Andere Hörer preisen etwa „die Durchsichtigkeit, die Kraft, die feinen Nuancen der selbständigen verschlungenen und sonst oft verwischten Linien“ - die bekannten Fetische von HIP. Wir hören stattdessen ein enervierend-undifferenziertes Dauerforte, mit dem uns inzwischen auch die Organisten als dem angeblich „korrekten“ Bach-Spiel peinigen (zum Beispiel Kazuki Tomita, ausgerechnet der Gewinner des 1. Preises im Fach Orgel des XX. Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs Leipzig 2016!). - Einzig am Beginn des „et in terra pax“ oder im „sepultus est“, auch im "Agnus" ringt sich der Dirigent kurze Zurücknahmen des Dauerfortes ab, zu dem er aber schleunigst wieder zurückkehrt. - Es bleibt die Frage, wer nach dutzenden historistischer Stilübungen, die bereits den Markt überschwemmen, solch eine Aufnahme der h-moll-Messe braucht. Eine Aufnahme, die zwar im historisch informierten Kostüm daherkommt, die in ihrer Musizierauffassung jedoch dem „objektiven“ Nähmaschinen-Barock der 1960er Jahre näher steht, als sie sich wohl selbst träumen lässt. Den versenkungsvollen und emphatischen, in reichster künstlerischer Fantasie dynamisch und phrasierungs-technisch ausgeloteten Interpretationen Karl Richters kann ein solches marktkonformes „Produkt“ nicht das Wasser reichen!
Zu: Johann Sebastian Bach (1685-1750) Messe h-moll BWV 232. Julia Doyle, Alex Potter, Daniel Johannsen, Klaus Mertens, Chor der J. S.Bach-Stiftung, Orchester der J. S.Bach-Stiftung, Rudolf Lutz. Label: JSB, DDD, 2016
7. Juli 2017
Die Kapitulation eines unabhängigen Geistes vor dem Mainstream?
Interview-Auschnitt Christian Thielemann aus der Wiener "Presse" vom 20. Juni 2017.:
"Hr. Thielemann, darf man Sie auch fragen, ...
1 ... wie Ihr Verhältnis zu Mozart ist?
Eigentlich ganz toll, ich habe ihn früher viel öfter dirigiert – und es dann aufgegeben. Denn dann kamen jene, die sich intensiv mit der historischen Aufführungspraxis auseinandergesetzt haben. Diese Kenntnis fehlt mir, und deshalb bin ich schlichtweg vorsichtig.
2 ...ob es Sie reizen würde, wieder mehr Mozart zu dirigieren?
Sehr, aber ich würde natürlich einem traditionelleren Mozart-Klang anhängen. Und da befürchte ich, dass man – zu Recht – sagen würde, ich kümmerte mich zu wenig um die historischen Erkenntnisse. Dabei höre ich mir genau an, was die Kollegen machen. Aber ich habe mit manchen klanglichen Dingen meine Schwierigkeiten und auch Zweifel. Wenn man es auf die romantische Art macht, dann ist es interessant, aber nicht immer befriedigend. Wenn man es auf die althergebrachte hört, fehlt es an Differenzierung. Ich weiß nicht, wie man das zusammen kriegt."
Wir schätzen Christian Thielemann als wohltuend unabhängigen Geist, der Musik seinem eigenen musikalischen Ethos folgend spannend interpretiert, statt uns mit Stilübungen zu langweilen. Wo bleibt in Sachen Mozart Thielemanns Mut, mit dem er sonst sagt: "Ich mache es so, weil ich es auf diese Art s c h ö n finde"?
Auch für Mozart brauchen wir Künstler, die nicht den HIP-Stammtischen die Deutungshoheit überlassen.
3. Juni 2017
„Alternative Fakten“ - auch in der Aufführungsgeschichte der Werke von J. S. Bach?
Am Sonntag, 2. Juli 2017 lief im RBB die letzte von 26 Folgen einer Sendereihe über Johann Sebastian Bach. Autor Michael Struck-Schloen zog zahllose Musikbeispiele, überwiegend aus historisch informierten Aufnahmen, heran, um seine Ausführungen zu „illustrieren“. Dabei fiel in den rund 50 Stunden Sendezeit ein einziges Mal der Name Karl Richter. Und zwar in der 5. Folge unter dem Titel „Musik-Anschauung 2 - Passacaglia in c oder Die gigantische Faust“. Struck-Schloen führte aus:
„... Immerhin wurde die Melancholie neben der erhabenen und düsteren Majestät des Themas immer schon als Wesenszug der Passacaglia angesehen ‒ Philipp Spitta, der wichtigste Bach-Biograf des 19. Jahrhunderts, sprach von einem „in schmerzlicher Sehnsucht schwelgenden Anfang“. Keiner der anerkannten Bach-Organisten des letzten Jahrhunderts hat wohl die schwelgende Trauer des berühmten Bassthemas und der ersten Variationen so ausgekostet wie Karl Richter, ein Schüler des Leipziger Thomaskantors Karl Straube. Schon als Kind konnte der hoch begabte Richter an der Orgel von Gottfried Silbermann im Dom von Freiberg in Sachsen üben. 1978, zweieinhalb Jahre vor seinem frühen Tod, hat er am selben Instrument die Passacaglia für die Schallplatte eingespielt. Hören wir den Beginn bis zum ersten Höhepunkt. Aus der Tiefe und fast leblos ertönt ganz allein das Thema im Pedal der Orgel. Wie ein uraltes Gesetz wird es ständig wiederholt und bleibt lange das Fundament der Stimmen, die sich über dem schreitenden Bass entfalten und bewegen. Erst spät wandert die Melodie auch in die oberen Stimmen, während der Bass in wilden Kaskaden herabstürzt. Zunächst aber der Ruf aus der Tiefe ‒ „de profundis“. ...“ Es folgten als Klangbeispiel ca. sechs Minuten des Beginns der genannten Aufnahme von Karl Richter.
Wie gesagt, dieses eine Mal wurde einer der wichtigsten und innovativsten Bach-Interpreten des 20. Jahrhunderts, Karl Richter, in dieser Sendereihe erwähnt. In der 25. Folge „Über die wahre Aufführungspraxis“, bemühte sich der Autor zwar, eine Geschichte der Bach-Interpretation seit Felix Mendelssohn Bartholdy zu umreissen. Er ließ aber, dem gegenwärtigen Mainstream folgend, keinen Zweifel daran, dass seiner Meinung nach „die wahre Aufführungspraxis“ mit Harnoncourt und seinen Adepten beginnt. Zwar gab er, mit einem Zitat des Bach-Forschers Christoph Wolff, zu, dass die frühen Bemühungen um eine historisch orientierte Wiedergabe der Werke Bachs einer trockenen „Neuen Sachlichkeit“ der 1920er Jahre geschuldet und kaum lebensfähig waren. Sogar den Scheck-Wenzinger-Kreis mit Fritz Neumeyer, immerhin noch Künstler der frühen Archiv Produktion der Deutschen Grammophon Gesellschaft, rechnet er zu den späten Vertretern dieser Richtung (wie auch Karl Richter auf sie gemünzt von den „trockenen Gesellen“ sprach).
Struck-Schloen verschweigt nun aber auf geradezu geschichtsklitternde Weise, dass die eigentliche Reaktion auf die Neue Sachlichkeit, die Wieder-Verlebendigung der Bach-Wiedergabe, seit den 1940er Jahren ihren Anfang in der sogenannten „Leipziger Schule“ mit Karl Straube und Günther Ramin nahm und vor allem in deren genialem Schüler Karl Richter einen bisher nicht mehr erreichten Höhe- und Schlusspunkt fand. Struck-Schloen bringt es fertig, diese drei zentralen Namen der Bach-Interpretation des 20. Jahrhunderts überhaupt nicht zu erwähnen, sondern schafft es, nach einem Musikbeispiel von Adolf Busch aus dem Jahr 1936 (Suite Nr. 4 D-Dur BWV 1069, 5) Réjouissance, Busch Chamber Players) als Beleg für die Neue Sachlichkeit, im Blindflug direkt zum Harnoncourt der späten 1980er Jahre (Kantate „Wachet auf, rufet uns die Stimme“ BWV 140,1 Chor „Wachet auf“, Tölzer Knabenchor, Concentus musicus Wien) zu springen. Die dazwischen liegenden 50 Jahre finden bei Struck-Schloen schlicht nicht statt – auch eine Möglichkeit, europäische Interpretationsgeschichte auf „alternative Fakten“ zu verkürzen... Falsch ist es auch, das nur nebenbei gesagt, wenn Struck-Schloen behauptet, die Harnoncourtsche sei die „erste Gesamtaufnahme“ des Bachschen Kantatenwerks gewesen – Rilling legte schon pünktlich zum Bach-Jahr 1985 die erste Gesamtaufnahme vor (Hänssler), zudem als Interpretation aus einer Hand und nicht in Arbeitsteilung entstanden wie bei Harnoncourt und Leonhardt (Teldec).
Dieser einseitigen Darstellung, die nur einmal mehr beweist, wie das Wirken Karl Richters in der Historismus-Panegyrik der Kritikerzunft (oder gar Kritikermafia?) konsequent totgeschwiegen wird, sei ein kraftvolles Statement des Universalgelehrten Dieter Borchmeyer („Was ist deutsch?“, Rowohlt, 2017) entgegengesetzt, das er in einem Porträt im Deutschlandfunk abgab:
„Karl Richter war wahrscheinlich der Musiker, der mich in meinem Leben überhaupt am meisten bewegt hat. Ich habe unendlich viele Konzerte von ihm gehört, war auch in vielen Proben seiner Aufführungen dabei und die h-moll-Messe war da neben den Passionen immer der Gipfel in der Begegnung mit Karl Richter und natürlich mit Bach. [… Ich kam schon sehr früh, als zehnjähriges Kind, zu Bach] und das fand dann in diesen unvergesslichen Aufführungen von Karl Richter seine Vollendung. Dieses „Gratias agimus tibi“ liebe ich besonders und vor allen Dingen in dieser Interpretation, weil diese gewaltige Steigerung auf diesen Paukenwirbel auf dem Höhepunkt mich immer wieder hinreisst. Wenn man andere Aufnahmen hört, kommt das gar nicht so zum Zuge. Ich finde, das ist eine so gewaltige Aufführung, wie ich ja auch der Überzeugung bin, dass Richter wirklich der größte Bach-Dirigent überhaupt war – auch wenn das heute nicht mehr 'Mode' ist in der Zeit der historisch informierten Aufführungspraxis. Aber durch diese historisch informierte Aufführungspraxis geht auch sehr viel an Bach verloren!“
(Quelle: Musik und Fragen zur Person: Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer im Gespräch mit Joachim Scholl, DLF, 11. 6. 2017)
Beitrag zu: https://www.kulturradio.de/programm/schema/sendungen/johann_sebastian_bach/archiv/20170702_1504.html